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Wie ticken Jugendliche?

Das deutsche Sinus-Institut forscht seit über 40 Jahren zu Lebenswelten und beschreibt sie in sogenannten Sinus-Milieus. Dabei handelt es sich um ganzheitliche Bilder der einzelnen Lebenswelten. Seit 2008 gibt es eine eigene Sinus-Jugendstudie, die alle vier Jahre durgeführt wird. Die aktuellen Ergebnisse 2024 wurden bei der Wiener Gesundheitsförderungskonferenz 2024 präsentiert.

Wiebke Jessen ist von der deutschen Sinus-Akademie, dem Weiterbildungsangebot des Sinus-Instituts. Sie beschrieb in ihrem Vortrag, warum die Sinus-Milieus von großer Bedeutung dafür sind, wie Angebote - auch im gesundheitlichen und sozialen Bereich - bei Jugendlichen ankommen. Dabei gehen diese Milieus über die reine Beschreibung von Personengruppen anhand sozialer und wirtschaftlicher Gesichtspunkte, also die Soziodemografie, hinaus. Denn, so Jessen, Menschen mit gleichem Hintergrund bezüglich Bildung, Herkunft, sozialem Status usw. seien noch lange nicht auf die gleiche Art erreichbar. Als Beispiel nannte sie prominente Persönlichkeiten mit vergleichbarem Hintergrund. Der Sänger Bill Kaulitz von der Rockgruppe Tokio Hotel und der Profifußballer Thomas Müller sind solche „soziodemografischen Zwillinge“. Ebenso die deutsche Exkanzlerin Angela Merkel und die extravagante Komödiantin Hella von Sinnen. Auch Franz Beckenbauer und der Schlagersänger Jürgen Drews haben jeweils den gleichen soziodemografischen Hintergrund. Und doch pflegen all diese soziodemografischen Zwillinge sehr unterschiedliche Lebensstile. „Würden wir versuchen, diese Personen zur gleichen Zeit mit denselben Botschaften zu erreichen, würden wir vermutlich keinen von ihnen erreichen,“ erklärte Jessen in ihrem Vortrag.  Die Sinus-Milieus werden aber anhand vieler weiterer Faktoren zu aussagekräftigeren Bildern, als die Soziodemografie sie schaffen kann.  Solche Faktoren, die bei den Umfragen zur Sinus-Studie erhoben werden, sind auch die Werte, die den Jugendlichen wichtig sind.

Wichtige Werte

Es gibt durchaus Werte, die in allen Milieus viel bedeuten – Gesundheit ist so ein gemeinsamer Wert. Das war übrigens bei früheren Sinus-Jugendstudien nicht so. Dass Werte sich ändern, ist ganz normal, meint Jessen. Einerseits bei den Einzelnen im Lauf des Lebens, andererseits aber auch innerhalb der Gesellschaft durch bestimmte Ereignisse oder Trends. Gerade im Zusammenhang mit der Gesundheit haben in den vergangenen Jahren viele Faktoren Einfluss genommen. Wiebke Jessen vermutet hinter der großen Übereinstimmung bei der Wertigkeit der Gesundheit beispielsweise, dass Corona eine Rolle spielt. Durch die Pandemie mussten sich auch die, die sonst (noch) weit davon entfernt waren, mit Gesundheit auseinandersetzen. Und wir alle haben erkennen müssen, dass Gesundheit auch für junge Menschen keine Selbstverständlichkeit ist. Der Trend zu einem gesundheitsorientierten Lebensstil, die verschiedenen Ernährungsstile, die Bewegungstrends aus den Sozialen Medien und weitere Faktoren, die den jugendlichen Lifestyle prägen, spielen dabei möglicherweise ebenso eine Rolle.

Die Rolle der Gesundheit

Viele der Jugendlichen beschäftigen sich allerdings bisher kaum explizit mit Gesundheit. Doch wurde im Verlauf der Gespräche für die Studie deutlich, dass Gesundheit dennoch als Grundlage für alles im Leben erlebt wird. Gesundheit wird meist im Kontext mit Ernährung und Bewegung gesehen. Am Beispiel der Bewegung ist gut zu erkennen, wie unterschiedlich die Ansprache sein muss, um Jugendliche abzuholen. Auch wenn den meisten Jugendlichen aus allen Milieus gemeinsam ist, dass sie Sport für das allgemeine Wohlbefinden gut finden, gibt es doch völlig unterschiedliche Motive, die Jugendliche „in Bewegung bringen“.

Unterschiedliche Motive

Einige dieser Motive sind in manchen Lebenswelten stärker ausgeprägt als in anderen. In manchen der Milieus wollen Jugendliche durch Bewegung etwa eher abnehmen, während andere durchaus ihre spätere Gesundheit als Grund für körperliche Aktivität nennen. Auch der Wunsch, durch Bewegung gut auszusehen, ist in manchen Milieus besonders wichtig. Die Außenwirkung, z. B. durch Kleidung bestimmter Marken, spielt auch eine größere Rolle bei vielen Jugendlichen. Etwa die Hälfte aller Jugendlichen haben sportliche Vorbilder. Bei den für die Studie befragten Jungen sind das oft Profisportler, bei Mädchen häufiger Influencerinnen. Jugendliche aus einem schwierigen Umfeld wählen dabei oft Idole, die selbst aus sozial schwierigen Verhältnissen stammen, es aber nach oben geschafft haben. Über diese Motive können unterschiedliche Gruppen Jugendlicher punktgenau erreicht werden.

Ganzheitliches Bild

Für die Interviews, auf denen die Studie basiert, wurden Gespräche bei den Jugendlichen zuhause geführt, in denen sie von ihrem Leben erzählten, ihre Zimmer zeigten und so ein ganzheitliches Bild vermittelten. Die Fragen gingen dabei in vielfältige Richtungen: Wie leben und erleben Jugendliche ihren Alltag? Wie nehmen sie die gegenwärtigen Verhältnisse in Deutschland und in der Welt wahr? An welchen Werten orientieren sie sich? Welche Lebensentwürfe verfolgen sie? 

Die Sinus-Milieus der Jugendstudie 2024

Die aktuelle Jugendstudie „Wie ticken Jugendliche? 2024“ nennt sieben Sinus-Milieus. Diese dürfen nicht als „Schubladen“ interpretiert werden. Es gibt immer wieder zahlreiche Überschneidungen. Wer die Erreichbarkeit Jugendlicher für Gesundheitsangebote einschätzen will, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass die Lebensrealität Jugendlicher sehr komplex ist und es nicht möglich ist, alle Mitglieder einer Gruppe gleich gut zu erreichen.

  1. Traditionell-Bürgerliche: Das sind eher bescheidene, natur- und heimatorientierte Familienmenschen mit starker Bodenhaftung. Sie sind gern in Vereinen organisiert und schätzen klare Strukturen.
  2. Adaptive: Diese sehr große Gruppe ist leistungsorientiert, passt sich gut an, und die Familie ist wichtiger Orientierungspunkt.
  3. Prekäre: Sie kommen oft aus schwierigen und/oder finanziell angespannten Lebenssituationen. Sie sehen viel fern oder spielen Videospiele. Respekt ist für sie ein hoher sozialer Wert.
  4. Konsummaterialist*innen: Hier handelt es sich um die freizeit- und familienorientierte untere Mitte mit ausgeprägten markenbewussten Konsumwünschen. Luxus und Status sind dieser Gruppe wichtig.
  5. Experimentalist*innen: Sie wollen viel erleben und das Jetzt und Heute genießen. Grenzen auszuloten, ist ihnen wichtig. Freiheit und Kreativität sind bedeutende Werte für sie.
  6. Neo-Ökologische: Sie sind nachhaltigkeits- und gemeinwohlorientiert. Ihre Weltsicht ist kosmopolitisch und sie haben intellektuelles Interesse.
  7. Expeditive: Diese Jugendlichen sind erfolgs- und Lifestyle-orientierte Netzwerker*innen auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen.

Wechsel zwischen den Welten

Welchem Milieu Jugendliche zuzuordnen sind, bleibt auch nicht immer gleich. Der Übergang zum Erwachsensein ist schon an sich eine schwierige Zeit, in der Werte sich stark verändern können. Lebenswelten entwickeln sich meist, wenn Jugendliche 12 bis 13 Jahre alt sind. Und oft kommen die jungen Menschen erst in ihren späten Zwanzigern in ihrer Erwachsenenwelt an. Auch da kann es noch zu Übergängen kommen. Diese fallen in den meisten Fällen nicht extrem aus. Traditionalist*innen beispielsweise werden eher nicht zu Experimentalist*innen. Aber es kann durchaus sein, dass sie z. B. irgendwo in der Mitte des Wertespektrums, beispielsweise bei den Adaptiven, ankommen. 

Sinus-Milieus und Gesundheitsförderung

Die Sinus-Milieus sind eine Basis für Zielgruppenstrategien. Wir können durch die Kenntnis des jeweiligen Milieus verstehen, mit welcher Art von Ansprache an die jeweiligen Gruppen herangekommen werden kann. Die Lebenswelten haben auch großen Einfluss darauf, welche Rolle Gesundheit im Alltag der Jugendlichen spielt. Umso wichtiger ist für die Gesundheitsförderung, die Zielgruppen passend abzuholen. Jugendliche aus prekären Milieus lassen sich eher über Ziele wie abnehmen oder Respekt für erreichte Leistungen zu Bewegung motivieren. Traditionell-Bürgerliche sind oft über das Gemeinschaftserlebnis im Sportverein dafür zu gewinnen. Viele Neo-ökologische Jugendliche denken an die zukünftigen Folgen von Bewegungsmangel und können darüber erreicht werden. Bei Adaptiven wiederum könnten mehrere dieser Motive zutreffen. 
Die Werte und Motivationen, über die Jugendliche mit gesundheitsfördernden Maßnahmen erreicht werden können, sind uns selbst oft fremd. Um Jugendlichen aus anderen Lebenswelten wirkungsvolle Gesundheitsangebote zu machen, müssen wir uns von unseren eigenen Vorstellungen befreien. Wir müssen uns Gedanken machen, wen wir ansprechen wollen, wer am meisten Unterstützung braucht und wie die Bedarfe der verschiedenen Gruppen getroffen werden. Bei dieser Zuordnung können die Sinus-Milieus eine wertvolle Entscheidungshilfe sein.